Liebe Leser!

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Foto mit freundlicher Genehmigung von K. Ammerer

Während allerorts die Maibäume nadeln, blättert überall das im Boden verwurzelte Gehölz. So steht nun auch die Blutpflaume an der Ostseite der Volksschule im vollen Saft und trägt nicht nur frisches Laub, sondern auch (Blatt für Blatt!) zu einem guten Klima für ein bodenständiges Denken in den Klassenräumen bei.

Meine Wurzeln liegen zwar 100 km Richtung Osten, bin aber vor 30 Jahren als junger Setzling in die Vöcklataler Erde gesteckt worden, also ganz naturgemäß so weit, so gut – um es jetzt gehölzern zu sagen – an den Baum-bestandenen Gestaden der Vöckla verpflanzt, dass ich durch „Vöcklamarkt in alten Tagen“ nicht nur im Ur-Laub immer wieder mit Interesse blättere.

juni15_2In dieser „Bildchronik 1859 – 1959“, die Kommerzialrat Karl Ammerer-Willibald (unser Vöcklamarkter Ehrenbürger und mein geschätzter Nachbar) herausgegeben hat, habe ich ein Foto entdeckt, das auf den ersten Blick nicht sonderlich aussagekräftig erscheint, mich aber nach dem Lesen der dazugehörigen Zeilen elektrisiert, wie ein Blitz getroffen hat.

Die Aufnahme stammt aus dem Jahr 1905, dem Jahr, als die Brüder Wright das erste Mal mit einem Motorflugzeug vom Boden abhoben, gleichzeitig Albert Einstein seine Relativitätstheorie veröffentlichte, Sigmund Freud drei wichtige Abhandlungen zur Sexualtheorie herausbrachte, im russischen Schitomir ein blutrünstiges (dreitägiges) Pogrom gegen Juden ausbrach, Theodore Roosevelt amerikanischer Präsident war und die österreichische Schriftstellerin Bertha von Suttner als erste Frau den Friedensnobelpreis für ihr Werk „Die Waffen nieder!“ erhielt.
Das war die Zeit, als in Vöcklamarkt der ausgezeichnete Arzt Dr. Anton Scheiber mit dem Pferd die Kranken besuchte und in seiner Ordination sogar chirurgische Eingriffe an Patienten durchführte. Eine Zeit, da Kinder und Jugendliche noch keinen Energydrink zu sich nahmen, sondern noch auf die Kirschbäume kraxelten, zum einen wegen der Früchte, zum anderen vielleicht auch, um ungestört Vaters Zigaretten rauchen zu können.

Jetzt aber zu besagtem Foto aus Herrn Ammerers Buch! Es zeigt im Hintergrund das Kaufhaus, davor ein Gebäude, in dem sich die Gemeindestube befand (heute: Uhren- und Heimatmuseum!) und im Vordergrund einen jungen Baum an der Kirchenmauer. Damals war das der Schulplatz, weil auf dem Areal des jetzigen Pfarrsaals ein Schulgebäude stand.

Jetzt aber zur besagten Bildunterschrift, die mich so elektrisiert hat:
„An der Ostseite der Pfarrkirche wurde in Erinnerung an den 100. Todestages des Dichters Friedrich von Schiller (9. Mai 1905) vor der neuen Begrenzungsmauer die sogenannte „Schiller-Linde“ gepflanzt.“

Jetzt aber denke ich exakt 110 Jahre weiter. Wir schreiben das Jahr 2015. Ist es heute vorstellbar, dass sich Bürgermeister, Gemeinderäte und Lehrer an einen Tisch setzen, um ein großes Fest mit Blasmusik, Schulchor, etc zu Ehren eines wichtigen Schriftstellers zu organisieren, einfach weil sie grundsätzlich eine „Baumpflanzung für das Denken“ als unbedingt notwendig erachten? Ist es realistisch zu denken, dass Bürgermeister, Gemeinderäte und Lehrer im Kalender nach wichtigen Jahrestagen großer österreichischer Literaten suchen, dass sie z. B. anlässlich des 100. Geburtstages der Lyrikerin Christine Busta einen Künstler beauftragen, eine marmorne Busta-Büste anzufertigen? (Oder tendiert man eher zu einer Dolly Buster-Büste?) Ist es vorstellbar, dass man für 100 Jahre Christine Lavant, dieser wundersamen Dichterin, eine Lavant-Weide neben die Vöcklabrücke pflanzt? Am Marktplatz eine Kafka-Nuss? Eine Trakl-Kastanie? Setzt man nächstes Jahr ein Zeichen und wegen des runden Geburtstages einer der berühmtesten Schriftstellerin Österreichs eine Ingeborg Bachmann-Plantane? Oder für den begnadeten Romancier und Chronisten des Untergangs des Habsburgerreichs, Josef Roth, eine Roth-Buche? Wäre es möglicherweise auch denkbar, dass man einen Baum pflanzen möchte, der Früchte trägt, diesen vor das Gemeindeamt pflanzt und als Paten einen der schärfsten Kritiker und Denker unseres Landes, den Karl Kraus, auserwählt: die Kraus-Birne!

Sind diese Fragen und Gedanken nicht hinreißend?!
Oder weisen sie doch nur hin auf hirnrissige Utopien?

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Übrigens, liebe Leser,
viele Bücher bedeutender (oft leider schon verstorbener) Schriftsteller sind im Lesezentrum fechila entlehnbar. Unser Bestand (ca. 8000 Medien) wird zwar ständig durch Neuerscheinungen in allen Bereichen aktualisiert, doch wir pflegen auch Klassiker.

Es tut immer wieder gut, sich mit einem literarischen Werk unter einen Baum zu setzen, meint

Robert Templ

 

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Thomas Bernhard (1931-1989)

PS 1: Das ist passiert: Vor gut 3 Jahren wurde an der Ostseite der Vöcklamarkter Volksschule eine Glastafel angebracht – zu Ehren eines österreichischen Dichters.

PS 2: Wärmstens zu empfehlen ist das neu gestaltete Literaturmuseum in Wien: Literaturmuseum Grillparzerhaus, Johannesgasse 6, 1010 Wien.

PS 3: In der „Neuen Freien Presse“ aus dem Jahr 1905 musste ich lesen:

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[Bei einem Gewitter in Arzberg (Steiermark) kommen sechs von zehn Knaben, die sich auf einem Kirschbaum aufhielten, durch Blitzschlag ums Leben.
aus: Neue Freie Presse, am 25.7.1905]