Liebe Leser,

das kann doch nicht NORMAL sein, das ist doch

IRRE. VERRÜCKT. REINER WAHNSINN,
jack-nicholson-about-schmidt

wenn angesichts der zahlreichen, für das Lesezentrum angekauften Herbst-Neuerscheinungen in dieser fechila-INFO Bücher vorgestellt werden, die wahrlich irre, doch für den Buchhandel nicht mehr aktuell sind. Aber was ist schon normal?!

Verrückt man durch die Lektüre guter Bücher nur ein klein wenig den Blickwinkel, kommt man aus dunklen Sichtweisen heraus. Der Roman von Ugo Riccarelli hat es mir besonders angetan. Der helle Wahnsinn!

 

Ugo Riccarelli: „Die Residenz des Doktor Rattazzi“
(Febr. 2013, 192 S.)

september14_02Eine hohe Mauer trennt das Irrenhaus einer Kleinstadt in der Toskana von der Außenwelt. Durch eine Lücke beobachtet der kleine Beniamino fasziniert die Geisteskranken: wie sie Blumen essen, ihre komischen Gesten, ihr geheimnisvolles Verhalten. Als er einige Jahre später nach einem Unfall sein Medizinstudium aufgeben muss, findet er in der Einrichtung Arbeit als Assistent. Bei den Irren ist der sensible junge Mann sehr beliebt, vom wissenschafts-gläubigen, herzlosen Personal, das auch Elektroschocks einsetzt, wird er dagegen argwöhnisch beäugt. – Doch es kommt ein neuer Arzt namens Rattazzi, der mit alternativen Methoden für eine menschlichere Pflege sorgt. – Als während des Zweiten Weltkriegs die Bombadierungen immer bedrohlicher werden, lässt Rattazzi seine Irren in einem einsamen Landhaus auf dem Apennin unterbringen. Doch auch in dieser idyllischen Landschaft sind die Insassen vor der Brutalität der Nazis nicht sicher. Der verrückte Professor Cavani, der nur in Homer-Versen spricht, wird umgebracht, einem weiteren Geisteskranken, Fosco, der wie die Vögel fliegen will, gelingt die Flucht, und er landet bei den Partisanen. – Beniamino erzählt die Geschichte dieser Außenseiter, die sich untrennbar mit der großen Geschichte des 20. Jahrhunderts vermischt.

„Beniamino starrte sie hingerissen an. Er achtete nicht auf die Rufe seiner Großmutter und sah diesen Geistern dabei zu, wie sie Rosen aßen. Liebend gerne wäre er über das Gitter gestiegen, um diesen seltsamen Zustand, der sie beherrschte, selbst zu erfahren.“

Sind Menschen, die man für wahnsinnig erklärt, wahnsinniger als Menschen, die einen Krieg erklären? Ugo Riccarellis Roman über die Insassen einer Heilanstalt und ihre „andere“ Vernunft.

 

Noch ein italienischer Autor – zu einem sehr verwandten Thema:
Ascanio Celestini: „Schwarzes Schaf“
(Aug. 2011, 128 S.)

september14_03Ins Irrenhaus kann man zufällig oder aus Versehen geraten. Ist einer schon verrückt, nur weil er mitten in der Sommersonne, wenn alle fröhlich sind, plötzlich in düstere Stimmung fällt. Wenn einer Angst hat im Dunkeln, manchmal auch am Tag? – Nicola, der hier von sich erzählt, hat 35 Jahre im Irrenhaus gelebt. Früher brachte seine Oma ihn in die Schule und der Lehrerin ein Ei. Nicola saß in der letzten Bank und war in der Klasse das schwarze Schaf. Später bringt die Oma ihn zu den Verrückten, einmal auch ans Meer.
Man liest, was Nicola erzählt, über sich und das Leben der anderen Insassen – zunächst mit dem Wohlwollen dessen, der vermutet, er sei kein schwarzes Schaf. Dann verschwindet diese Sicherheit. Ist nun Nicola in der Anstalt verrückt oder das Mädchen an der Supermarktkasse? Jedenfalls werden sie beide andauernd überwacht und tun immer das selbe. Aber am Ende der Geschichte dürfen wir mit Nicola befreit durchatmen und lachen.

[Anmerkung des Verlags:]
Irrenhäuser in Italien haben eine besondere Geschichte. Im Jahr 1978 erregte der italienische Psychiater Franco Basaglia (1924 – 1980) europaweit Aufsehen durch eine heftig umstrittene Reform: Die oft gefängnisartigen psychiatrischen Anstalten in Italien wurden abgeschafft, ihre Insassen danach in allgemeinen Krankenhäusern oder ambulant behandelt. Als Direktor der Psychiatrischen Kliniken in Gorizia und Triest hatte Basaglia seit den 1960er Jahren die katastrophalen Zustände in den italienischen Irrenhäusern bekanntgemacht und die Rückkehr internierter Patienten in die Gesellschaft gefördert. Viele Patienten zogen daraufhin in Wohngemeinschaften und offene Einrichtungen. Basaglias Bewegung stand unter der Maxime Freiheit heilt.

 

Der Burg-Schauspieler Joachim Meyerhoff fand vor einigen Jahren mit seinem Roman „Alle Toten fliegen hoch – Amerika“ große Beachtung. Auch sein „Nachfolge-Band“ (siehe unten) war ein Bestseller.

Joachim Meyerhoff: „Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“
(Febr. 2013, 352 S.)

september14_04Zu Hause in der Psychiatrie:
Joachim Meyerhoff erzählt von einer Welt, die ihresgleichen sucht. Wie es ist, zwischen Hunderten von körperlich und geistig Behinderten aufzuwachsen, wenn der Vater der Psychiatriedirektor ist und das Elternhaus mitten auf dem Anstaltsgebäude liegt.
Ein brüllend komischer und tieftrauriger Roman über einen Jungen, der am besten schläft, wenn nachts die Schreie der Patienten hallen, der Blutsbrüderschaft mit dem Hund schließt und dem Doppelleben seines Vaters auf die Spur kommt – einem faszinierenden Mann, der in der Theorie glänzt, in der Praxis versagt, voller Lebensfreude ist und doch nichts gegen sein Ende vermag.

 

Wer denkt bei all dem nicht zwangsläufig an den Spielfilm „Einer flog über das Kuckucksnest“, den Milos Forman vor ca. 40 (!) Jahren gedreht hat. Jack Nicholson als Hauptdarsteller in diesem Streifen begeistert auch heute noch.

 

Milos Forman: „Einer flog über das Kuckucksnest“
(DVD, USA 1975, 128 min.)

september14_05Ein Irrenhaus ist allemal besser als der Knast – findet der hartgesottene Draufgänger McMurphy: Vor Gericht gibt er sich als unzurechnungsfähig aus und lässt sich in eine staatliche Nervenheilanstalt einweisen. Doch was ihn dort erwartet, hätte er sich niemals träumen lassen: Eine boshafte Stationsschwester führt ein brutales, menschenverachtendes Regiment und die hilflosen Patienten vegetieren in Angst und Verzweiflung vor sich hin. Wer sich nicht anpasst, wird ohne Gnade mit Elektroschocks gefügig gemacht. Doch McMurphy ist aus anderem Holz geschnitzt. Er nimmt die Herausforderung an und erklärt dem grausamen System den offenen Krieg…
Bilder etwas verrückt: Formatierungsproblem !

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Zum Thema dieser fechila-INFO passend – ein Band aus dem Sachbuch-Regal:
Manfred Lütz: „IRRE! – Wir behandeln die Falschen: Unser Problem sind die Normalen“
(März 2011, 208 S.)

september14_07Dieses Buch ist eine scharfzüngige Gesellschaftsanalyse und zugleich eine heitere Einführung in die Seelenkunde. Was ist Depression, Angststörung, Panik, Schizophrenie, Sucht, Demenz und all das, und was kann man dagegen tun?
Und hier noch eine detailliertere Produktbeschreibung von Amazon:
Hitlers Taten waren abscheulich. Doch der Diktator war nicht psychisch krank, sondern normal. Statistisch gesehen verüben psychisch Kranke sogar weniger Straftaten als Normale, weiß Manfred Lütz aus dem Klinikalltag zu berichten. In seinem Streifzug durch die Spielarten der menschlichen Psyche versucht der Autor, das Wesentliche von Psychiatrie und Psychotherapie darzustellen. Prima, wenn endlich jemand anschaulich erklärt, worüber viele sprechen, aber nur wenige wirklich eine Ahnung haben.
Hauptsächlich dreht es sich um psychische Krankheiten und gängige Therapien. Zunächst führt uns Lütz jedoch vor Augen, wie sehr das Verhalten psychisch Gesunder seltsame Blüten treibt. „Normalos“, die in stumpfer und spießiger Atmosphäre vor sich hindümpeln, bekommen genauso ihr Fett ab wie diejenigen, die Blödsinn professionell erzeugen. Dazu zählt Lütz die Ergüsse von Dieter Bohlen, Paris Hilton und wilde esoterische Pendeleien.
Zugegeben, das Inhaltsverzeichnis sieht arg nach Seminararbeit aus. Die Stärke des Buches macht aus, dass Lütz viele plastische Beispiele anbietet, um nackte Theorie mit Leben zu füllen. So verstehen Laien besser, was zum Beispiel Depressive von Manikern unterscheidet. Und wenn wir erfahren, wie eine Patientin einmal die Bundeswehr aufmischte, öffnet sich die Pforte zum Reich der netten Anekdote.
Bei der neuen „Volkskrankheit“ Alzheimer konstatiert Lütz: „Wie eine Gesellschaft mit Dementkranken umgeht, das ist die Nagelprobe für ihre Menschlichkeit.“ Ergo ist die von Lütz angekündigte „heitere Seelenkunde“ so lustig nun auch wieder nicht. Tatsächlich fehlt es Lütz nicht am nötigen Ernst, wenn etwa dargelegt wird, wie wenig Wahlfreiheit Süchtige haben, was im Wahnsystem schizophrener Patienten passiert oder wann Psychopharmaka eine befreiende Wirkung entfalten.
Dass wir die Falschen behandeln, wie der Untertitel des Buches reißerisch ankündigt, erweist sich als zuviel des Guten. Auf alle Fälle gilt: „Das mutwillige und zynische Suchen nach Defiziten bei gesunden Menschen ist menschenunwürdig“, wie der Psychiater und Arzt vor Risiken und Nebenwirkungen der Lektüre warnt. Und während die einen die bisweilen betont locker-flockige Art des Autors weniger mögen, sehen andere darin eine souveräne Haltung voll heiterer Demut. Unter dem Strich lautet deshalb die Diagnose des Kritikers: Prädikat wahnsinnig lesenswert!

 

Und immer wieder lese ich die „irren“ Texte des Georg Paulmichl.

Georg Paulmichl,
geboren 1960 in Schlanders in Südtirol, lebt in Prad und besucht die dortige Behindertenwerkstätte. Seit den 80er-Jahren schreibt und malt er.
2007 erhielt er das Österr. Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst.

Selbstverständlich befindet sich ein Buch dieses Künstlers im Lesezentrum fechila:

„Der Georg“ – Texte und Bilder von Georg Paulmichl
(2008, 108 S. + CD)

september14_08„Was der Georg Paulmichl schreibt, ist für mich die höchste Stufe der Poesie, die ein heute lebender Mensch erklimmen kann“, so der große Schauspieler Dietmar Schönherr über den Südtiroler Dichter und Maler.
Paulmichl beleuchtet in seiner Kurzprosa die Alltäglichkeiten der Welt und der Menschen wach und sensibel, stets mit einem schrägen Blick auf das Absurde und Groteske, das sich hinter dem Gewöhnlichen versteckt. Skurrile Wortschöpfungen, oft demaskierend verwendete Floskeln und ein zweideutiges Spiel mit altvertrauten Klischees machen Paulmichls Texte zu literarischen Schätzen. Neben einer Auswahl der besten Texte der vergangenen 20 Jahren enthält dieser Band zahlreiche neue Prosastücke und Bilder Paulmichls sowie ein Vorwort von Felix Mitterer. Die beigelegte CD enthält eine Lesung von Paulmichl-Texten durch Paulmichls Betreuer und Herausgeber Dietmar Raffeiner sowie Vertonungen von Wolfgang Paulmichl, Walter Tolloy und Erwin Windegger.

„Behinderte“ – ein kurzer Text aus diesem Band:

Die Welt braucht keine behinderten Menschen.
Aber da sind sie trotzdem.
Mit Geburtsgebrechen hat Jesus die Behinderten in die Welt geschickt.
In der Behindertenwerkstätte basteln sie Korbgeflechte.
Die Dorfbewohner sind froh, wenn sie keine Behinderten zu Gesicht kriegen.
Bei der Opfermesse singen sie die falsche Tonleiter.
Im Neubau der Behindertenwerkstätte wird das Leben eingeübt.
Die Betreuer sind streng und voller Ungeduld.
Die Körperbehinderten sind in den Rollstuhl integriert.
Ob sie im Himmel Einlass finden, weiß nur der liebe Gott.

 

 

Haben Sie Freude an diesen „alten“ Büchern –
aber natürlich auch an den vielen aktuellen Herbst-Neuerscheinungen!
R. T.