Liebe Leser!
Sie kennen die Geschichte:
Auf der einen Seite steht ein Herrscher auf der politischen, medialen oder religiösen Bühne, und auf der anderen Seite das diskret beherrschte Volk, das zu den herrschenden Verhältnissen steht. Die herrschende Meinung wird von beiden Seiten nicht in Frage gestellt. So führt es sich ein unbestreitbar bequemes Leben, zwar nicht in selbstbestimmter Freiheit, doch frei von Konflikten. Die durch Sanktionsandrohungen und Brot und Spiele von Zweifel und Denken abgehaltene Masse arbeitet brav, es sind aber vorwiegend kosmetische Reparaturen an der Fassade. Wer rüttelt schon gerne an den Grundfesten? Wer will sich schon ausgrenzen oder sich gar der öffentlichen Lächerlichkeit preisgeben als sogenannter „streitbarer Geist“, nur weil er hinterfragt und durchschaut und auf eine nicht immer angenehme Wahrheit hinweist? Dabei wäre es manchmal kinderleicht, den Finger auf den wunden Punkt der herrschenden Fassade zu legen. Etwas Druck ausgeübt, und das Kartenhaus fällt in sich zusammen.
Liebe Leser!
Sie kennen die Geschichte: Sie heißt „Des Kaisers neue Kleider“ von H.C. Andersen. In diesem Märchen erhebt sich ein Kind aus der Masse und zeigt mit dem Finger auf den nackten Herrscher: „Aber … der hat doch gar nichts an!!“ Unruhe! Die Fassade bröckelt und wankt, der Kaiser stürzt.
Der Hinweis auf nackte Tatsachen kann kontroversiell sein. Auf welche Art und Weise man eine Kontroverse ausführt, darüber kann man „streiten“. In einem uns wohl bekannten, von Römern umzingelten Dorf prügelten sich die unbeugsamen Gallier, bestenfalls schrien sie sich an. Menschen, sich der Aufklärung und dem Humanismus verpflichtet fühlen, zeigen mit dem Finger auf den nackten Kaiser, indem sie eine sogenannte Streitschrift verfassen.
Laut Wikipedia ist die Streitschrift eine „literarische Form der Kontroverse“. Sie übt „scharfe Kritik an herrschenden Positionen in Politik, Wissenschaft oder Religion. Eine Streitschrift provoziert, sie übertreibt, spitzt zu und kann sogar beleidigen. Es geht um engagierte Parteinahme für eine Sache, um Kritik und Ablehnung oder um Demaskierung einer Person oder Organisation. Dabei wird auch der gezielte Bruch von Tabus in Kauf genommen.“
Immer wieder werden in diesem Zusammenhang die litararisch hochwertigen und trotz ernstem Inhalt zuhöchst unterhaltsamen Streitschriften der beiden Philosophen Michael Schmidt-Salomon und Konrad Paul Liessmann genannt. Vollkommen zu Recht!
Im Lesezentrum gibt es entlehnbare Bücher von diesen beiden, aber auch von anderen guten und streitbaren Geistern. Allesamt zeigen sie mit den Fingern auf die Schein-Fassaden, wort- und gestenreich (Beachten Sie die Finger der Autoren auf den Fotos) lehren sie uns den Zweifel.
Im Folgenden eine Auswahl:
Michael Schmidt-Salomon: „Keine Macht den Doofen – Eine Streitschrift“, 128 S., Febr. 2012
„Finanzakrobaten, die mit Milliarden jonglieren, aber das kleine Einmaleins nicht beherrschen. Politiker, für die nur Stimmen zählen – statt Argumente. Religiöse Fanatiker, die uns mit modernsten Waffen ins Mittelalter zurückbomben wollen: Hinter der globalen Misere steckt, so Schmidt-Salomon in seiner mitreißenden Streitschrift, eine einzigartige, weltumspannende Riesenblödheit. Ein Aufruf zum Widerstand gegen den Irrsinn unserer Zeit.“ |
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Michael Schmidt-Salomon: „Jenseits von Gut und Böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind“, 368 S., April 2012
„Seit Charles Darwin wissen wir: Wir sind kaum mehr als „nackte Affen“. Und doch erklären wir uns moralisch gern zu höheren Wesen. Aber was wäre, wenn uns gerade die Unterscheidung in Gut und Böse ins Unglück stürzte? Wenn es uns ohne Moral besser ginge? Michael Schmidt-Salomon, streitbarer Kämpfer gegen den Geist der Zeit, entlarvt den freien Willen und die religiös verankerte Aufteilung in Gut und Böse als Illusionen. Ein provokantes Buch mit einer wahrhaft erlösenden Botschaft – die erstaunliche lebenspraktische und gesellschaftliche Folgen hat.“ |
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Konrad Paul Liessmann: „Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift“, 192 S., Sept. 2014
„Niemand weiß mehr, was Bildung bedeutet, aber alle fordern ihre Reform. Ein Markt hat sich etabliert, auf dem Bildungsforscher und -experten, Agenturen und Testinstitute, Lobbys und nicht zuletzt Bildungspolitiker ihr Unwesen treiben. Nach der „Theorie der Unbildung“ nun also ihre Praxis: Das, was sich aktuell in Klassenzimmern und Hörsälen, in Seminarräumen und Redaktionsstuben, in der virtuellen Welt und in der realen Politik abzeichnet, unterzieht Konrad Paul Liessmann einer scharfen Kritik. Hinter der Polemik steht ein ernstes Anliegen: der Bildung und dem Wissen wieder eine Chance zu geben.“ |
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Konrad Paul Liessmann: „Theorie der Unbildung“, 176 S., Dez. 2008
„Alle reden von der Wissensgesellschaft. Debatten um die mangelnde Qualität von Schulen und Studienbedingungen – PISA! -, um Spitzenforscher und potenzielle Nobelpreisträger haben heute die Titelseiten der Zeitungen erobert. Aber wie ist es tatsächlich bestellt um das Wissen? Meint die Wissensgesellschaft es wirklich ernst mit der Bildung? Konrad Paul Liessmann entlarvt vieles, was unter dem Titel Wissensgesellschaft propagiert wird, als rhetorische Geste. Eine fesselnde Streitschrift wider den Ungeist der Zeit.“ |
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Ilija Trojanow: „Der überflüssige Mensch – Unruhe bewahren“, 96 S., Juni `15
„Wer nichts produziert und nichts konsumiert, ist überflüssig – so die mörderische Logik des Spätkapitalismus. Überbevölkerung sei das größte Problem unseres Planeten – so die internationalen Eliten. Doch wenn die Menschheit reduziert werden soll, wer soll dann ver-schwinden, fragt Trojanow in seiner humanistischen Streitschrift wider die Überflüssigkeit des Menschen. In seinen eindringlichen Analysen schlägt er den Bogen von den Verheerungen des Klimawandels über die Erbarmungslosigkeit neoliberaler Arbeitsmarktpolitik bis zu den massenmedialen Apokalypsen, die wir, die scheinbaren Gewinner, mit Begeisterung verfolgen.“ |
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Ilija Trojanow: „Kampfabsage“, 240 S., August 2009
„Eine Streitschrift gegen falsche Feindbilder und für mehr Mut, Vernunft und Miteinander. – Von all den Schlagwörtern, die seit Ende des Kalten Krieges die Welt zu erklären versuchen, ist das vom „Kampf der Kulturen“ das prägnanteste und verheerendste zugleich. Mit ihm wurden weltweit Feindbilder geschaffen und Konflikte geschürt. Bestsellerautor Ilija Trojanow und der indische Dichter und Kulturkritiker Ranjit Hoskoté entlarven die Unsinnigkeit dieser These und rücken den Propheten eines kulturellen Weltkriegs die Köpfe zurecht.“ |
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Bernhard Heinzlmaier: „Verleitung zur Unruhe – Zur Hölle mit den Optimisten“, 320 S., Febr. 2015
„Einer ganzen Generation stummer Beobachter ist der Rebellionsgeist abhandengekommen. So lernt schon der kleine Fratz im Kindergarten, dass es sich besser anzupassen gilt. Abweichungen von der Norm sind nicht gefragt. Da scheint es taktisch klüger, keine Überzeugungen zu besitzen. Anpassung aus Kalkül. Dabei reizt doch gerade das Andersein und weckt die Abenteuerlust in uns. Bernhard Heinzlmaier stellt die Angepasstheit der Generation cool in Frage und setzt dieser Agonie seine ganz persönlichen Taktiken entgegen.“ |
Die Zuneigung des fechila-Teams allen kritischen Leserinnen und Lesern gegenüber ist unbestreitbar, weiß
Robert Templ
„Nicht zwar, als ob ich unser itziges Publikum gegen alles, was Streitschrift heißt und ihr ähnlich siehet, nicht für ein wenig allzu eckel hielte. Es scheinet vergessen zu wollen, daß es die Aufklärung so mancher wichtiger Punkte dem bloßen Widerspruche zu danken hat, und daß die Menschen noch über nichts in der Welt einig seyn würden, wenn sie noch über nichts in der Welt gezankt hätten.“
(Gotthold Ephraim Lessing, „Wie die Alten den Tod gebildet“, anno 1769)