Liebe Leser!
Nach der Schwerelosigkeit des Sommers sollen wir wieder funktionieren. Wir arbeiten (daran).
Urlaub aus. Ferien vorbei. Alltag!
Um nicht in einen Trott zu kommen, reise ich. Das Herz noch am Strand und in den Bergen, fahre ich in eine Stadt, die mir ans Herz gewachsen ist: Wien.
Es wird eine naturwissenschaftliche Reise, gewiss.
Ungewiss dagegen, ob mit Verspätung zu rechnen ist. Der Zug fährt pünktlich in Vöcklamarkt ein, – und so verstehe ich nur Bahnhof. Einsteigen. Vöcklabruck aussteigen. Umsteigen in den ICE, also ein Aufsteigen in der Eisenbahnhierarchie. Echt cool.
Falsch! Nicht nur auf den (gleich teuren) Stehplätzen ist es alles andere als cool (obwohl doch: ICE, engl. = EIS). Die Klimaanlage führt wieder einmal ein selbst bestimmtes Eigenleben und hat of(f)ensichtlich den Titel eines heiß geliebten Buches missverstanden:
„Du sollst nicht funktionieren“.
Eingezwängt inmitten schwitzender Menschen, sodass einem richtig schirach wird, kann ich mich nicht bewegen, während ich doch mit über 200 Sachen über die Landschaft rase. Nur eine Sache habe ich im Kopf: Wird jetzt auch noch der Zug von den Schienen rutschen, wenn doch schon so viele Gesichter von Mitreisenden durch die Beschäftigung mit ihren Smartphones entgleisen?
Ich denke, wir müssen uns einbremsen. Nur so erreichen wir glücklich das Ziel: Wien Westbahnhof.
Es ist paradox: Da wurde ein großzügiges Bahnhofsgebäude errichtet, und trotzdem existieren hier Menschen, die obdachlos sind. Leicht haben sie es nicht. Noch am Vormittag stehen sie mit dem Gesetz in Konflikt, – mit dem Gesetz der Schwerkraft. Manche Bevölkerungsgruppen haben einfach schwerer mit der Gravitation zu kämpfen.
In der U-Bahn U-Musik aus den Lautsprecherstöpseln, die in den Ohren der Leute stecken. Situationsbedingter Tunnelblick. An der Station Karlsplatz komme ich ans Licht: Ich sehe die TU Wien, an der mein Sohn Sebastian Physik studiert. Schauend und staunend warte ich. Weil grundsätzlich Natur Wissen schafft, lerne ich auch vor dem Eingangstor des naturwissenschaftlichen Gebäudes.
Sebastian wird mir seinen versprochenen Artikel über Chris Hadfields Buch „Anleitung zur Schwerelosigkeit“ geben, wir werden Essen gehen, über Hadfields Arbeit auf der
Internationalen Raumstation ISS reden,…
Ein Stein kann gewichtiger sein als zwei Steine, die bezüglich Bedeutsamkeit, Volumen und Dichte wenig(er) zusammenbringen. Einstein’s Relativitätstheorie? 50 Jahr jung oder 50 Jahre alt. Alles relativ. Auch ein Altausseer kann jung genug sein, Neues zu sehen. So lerne ich schon eine erheblich lange Zeit von meinem Sohn. (z.B. auf sebastiantempl.blogspot.co.at) Immer wieder glaube ich, auf Schiene zu sein und so den Alltag zu bewältigen, und er legt mir gewichtige Geistessteine in den Weg. Obwohl er mich auch hin und wieder stolpern lässt, fahre ich bedingungslos auf Wien ab.
Abfahrt in Wien. Westbahnhof.
Vorbei an den Obdachlosen, denen Stunden vorher noch die Erdanziehungskraft schwer zu schaffen gemacht hat, mitteldickes Buch von Werner Gruber und die sich mittlerweile im Zustand der Schwerelosigkeit befinden.
Jetzt sollte Einstein mein Reisebegleiter sein: Obwohl ich müde und etwas antriebslos bin, bewege ich mich mit hohem Tempo Richtung Vöcklamarkt. Das Mühlviertel fliegt an mir vorbei. Weil ich hinter Glas sandl, muss ich die Geschwindigkeit nicht erleiden. Ein richtiges Bord-Service, denke ich. Es kommt mir aber kein Ober unter. Über mir im Gepäcknetz ein Koffer. Gegenüber mir auch einer, keinen reinen Wein einschenkt, sondern still Kohlensäure-hältiges Mineralwasser trinkt. Ich habe das Bedürfnis zu lüften. Die Fenster zur Welt. Doch der Mensch spricht ihnen die ureigenste Bestimmung ab: das Öffnen. Fenster, du sollst nicht funktionieren.
Durchschauen ist die Devise!
Die da draußen scheinen mir geadelt. Auf mit frischer Gülle gedüngten Wiesen stehen Männer, Frauen und Kinder wie auf fliegenden Teppichen und rasen mit 200 km/h an mir vorbei. Ich hoffe, dass wenigstens die Hälfte dieser Menschen den Doppler-Effekt wahrnimmt, auch wenn die erlesene Blütezeit des Dopplers (beweinenswert?) längst Geschichte ist. Es wird zwar noch gelesen (Lesen immer wichtig!), aber nicht mehr in so große Gebinde abgefüllt. Man ist nicht mehr trunken von gutem Lese-Stoff.
Da steige ich aus …
Meine „naturwissenschaftliche“ Reise ist zu Ende. Nun beginnt wieder der Alltag. Und wenn Sie jetzt meinen, so einen Alltag kennen Sie zur Genüge, denken Sie an das 11. Gebot („Du sollst dich nicht täuschen.“) und lesen Sie das Buch von Chris Hadfield, der sich bestens mit einer Variante des Doppler-Effekts auskennt: dem All–Alltag 😉
Die nun folgende Rezension verfasste Sebastian Templ:
* * *
„Anleitung zur Schwerelosigkeit: Was wir im All fürs Leben lernen können“
von Chris Hadfield (Mai 2014, 368 S.)
Stellt euch vor, ihr befindet euch in einer Metallbüchse, die mit 28.000 km/h in etwa 400 km Höhe über die Erdoberfläche rast und deren Wände das einzige sind, das die für den Menschen absolut tödliche Umgebung draußen hält. Die technischen Geräte, welche die Lebensbedingungen im Inneren aufrecht erhalten, erfüllen das mitgenommene Stück Atmosphäre mit unaufhörlichem Summen, die begrenzten Wasservorräte machen es notwendig, alle (!) flüssigen Ausscheidungen des menschlichen Körpers wieder zu Trinkwasser aufzubereiten (Nein, natürlich gibt es keine Dusche!), und wenn man sich selbst nicht täglich für ein paar Stunden mit Gurten auf ein Fitnessgerät spannt, wird man kaum noch die Kraft finden können, wieder auf dem Erdboden zu gehen, sollte man es schaffen, die Heimreise zu überstehen, ohne dabei zu Staub zu verglühen. Und wenn man am Ende eines Tages dann die Augen schließt, sieht man den einen oder anderen kleinen, blauen Blitz – eine Erinnerung an die potenziell gefährliche Strahlung, die permanent den eigenen Körper durchdringt.
So verrückt das alles auch klingen mag, ist es doch seit 1998 für wenige Menschen für einen jeweils längeren Zeitraum Realität. Dass ein Leben außerhalb der Erdatmosphäre jedoch auch (oder hauptsächlich) von guten, atemberaubend schönen und nahezu magischen Momenten erfüllt ist, weiß Chris Hadfield zu erzählen – einer der wenigen Menschen, der einen Teil seines Lebens als Astronaut in der Internationalen Raumstation (ISS) verbracht hat. Schwerelos schwebend hat er ein halbes Jahr lang alle 90 Minuten die Erde umkreist und unseren Planeten „von oben“ bewundert.
Was wäre interessanter zu erfahren als das, was ein Mensch mit derartigen Erfahrungen zu erzählen hat?
Das Tolle ist, dass Chris Hadfield ein Buch geschrieben hat!
In „Anleitung zur Schwerelosigkeit: Was wir im All fürs Leben lernen können“ schildert der sympathische Mann mit Schnauzer seine Karriere und sein Leben als Astronaut – vom Kindheitstraum bis hin zum Höhepunkt seines professionellen Lebens als Kommandant der ISS-Expedition 34/35 im Jahr 2012/2013. Dabei ist sein Text keine fachlich-technische Abhandlung, sondern vielmehr eine lockere, leicht verständliche Autobiografie. Er beschreibt das Leben als Testpilot mit Höhenangst (!) vor dem Antritt der NASA-Ausbildung, die Vorbereitung zu Weltraum-Missionen, welche die Psyche strapazierende Situationen (Überlebenstrainings in der Wildnis, Simulation des eigenen Todes mit der Familie,…) beinhalten, seine Weltraumspaziergänge mit sowohl wunderschönen als auch gefährlichen Momenten, und vieles mehr. Lesende kriegen dabei einen Einblick in die herausragende Kompetenz und Professionalität von Astronauten und ihre ausgeprägten sozialen, kommunikativen Fähigkeiten.
Faszinierend dabei ist allerdings, dass die „Ratschläge“, die der Autor für ein friedliches und zufriedenstellendes Leben gibt, überraschend simpel – nahezu banal – erscheinen. „Bemühe dich, eine Null zu sein.“ „Halte dich an Kleinigkeiten auf.“ Chris Hadfield ist auch gerade mal ein Mensch. Oder besser: Gerade Chris Hadfield ist ein Mensch.
Eine weitere Besonderheit an der Karriere des Kanadiers ist sein Teilen der Erfahrungen mit dem Rest der Menschheit. Er ließ uns an seinem ISS-Abenteuer teilnehmen, indem er – live von der Raumstation – täglich Fotos und Videos veröffentlichte. Mehr als eine Million „Fans“ folgen ihm alleine auf Twitter. Es gibt kein Video in seinem YouTube-Kanal, das nicht absolut sehenswert wäre. Chris Hadfield hat uns die Faszination und Schönheit des Universums näher gebracht. Auch heute noch setzt er diese Tätigkeit fort, indem er Menschen jeden Alters in Vorträgen auf der ganzen Welt mit seinen gesammelten Erfahrungen zum Staunen und Wundern bringt.
Alles in allem ist „Anleitung zur Schwerelosigkeit“ ein Buch, das man, einmal angefangen, nicht mehr weglegen kann – über eine ungewöhnliche Karriere und eine faszinierende Raumfahrt-Welt, die erstaunlicherweise nicht mehr Science-Fiction ist.
Zum Abschluss (und zum Beginn des eigenen Weiter-Erforschens?) möchte ich eine kleine Auswahl meiner Meinung nach besonders sehenswerter Links empfehlen:
- Chris Hadfield: YouTube-Kanal, Twitter, Google+, Tumblr, Facebook
- Samantha Cristoforetti (italienische Astronautin, die ihre Vorbereitungen zur ISS-Expedition im November teilt): Google+, Twitter, Flickr
- Alexander Gerst (deutscher Astronaut, der momentan live von der ISS berichtet – auf Deutsch und Englisch): Twitter, Facebook, Flickr, Google+
- Reid Wiseman (NASA-Astronaut, ebenfalls Live-Posts von der ISS): Twitter, Vine
- HD-Live-Stream der Erde aus Sicht der ISS (in Echtzeit)
- NASA, ESA, CSA, SpaceX
* * *
Nach >Zugreise< und >Sebastian-Artikel< finden Sie hier eine weitere Buch-Rezension:
Ariadne von Schirach: „Du sollst nicht funktionieren: Für eine neue Lebenskunst“
(März 2014, 186 S.)
Doch stimmt das wirklich?
Ariadne von Schirachs Essay ist eine furiose Anstiftung, das Leben zu wagen, anstatt es zu verwalten. Optimierung und Ausbeutung sind allgegenwärtig. Die Natur, bedroht durch Profitgier und schiere Blödheit, ist uns fremd geworden. Das betrifft auch uns, unseren Umgang mit unserem Körper, der kontrolliert und nicht mehr bewohnt wird,
unsere Beziehungen und Freundschaften, die uns nützen sollen, anstatt uns zu bereichern. Doch vor allem werden die Anforderungen an uns selbst immer maßloser. „Du sollst nicht funktionieren“ ist eine kluge Polemik gegen den Selbstoptimierungswahn, eine leidenschaftliche Beschwörung des echten Lebens und ein Plädoyer für eine neue Lebenskunst.
Ariadne von Schirach wurde 1978 in München geboren. Die Philosophin lehrt an der Berliner Universität der Künste und arbeitet als freie Journalistin und Kritikerin für Deutschland-Radio Kultur und das Philosophie Magazin. Ihr 2007 erschienenes Buch „Der Tanz um die Lust“ wurde zum Bestseller.
Herzliche Grüße und ……………………………………………… wünscht Robert Templ