Du sollst das nicht lesen!
Diesen Satz, liebe LESER, schreibe ich hin und wieder mit Kreide an die zur Gänze gelöschte Tafel und rufe damit bei wachen Schulkindern interessante Reaktionen hervor:
Nervöses Gelächter („Jetzt hab ich das gelesen, hätte es aber nicht lesen dürfen und bekomme also nun geschimpft, weil ich das nicht NICHT gelesen habe.“), Aufregung („Du willst uns da reinlegen, Herr Lehrer.“), Irritation („Das funktioniert ja eigentlich gar nicht.“), Provokation („Ich wollt eh nix mehr lesen.“), Protest („Sag, hab ich heute wirklich ganz ungewollt 5 Wörter zu viel gelesen?“) und philosophisches Nachdenken („Aber ich muss doch den Satz „Du sollst das nicht lesen!“ erst LESEN, damit ich weiß, dass ich ihn nicht lesen soll. Wenn ich den Satz NICHT gelesen hätte, wüsste ich ja nicht, dass ich ihn nicht hätte lesen sollen…“ „Eigentlich hättest du das ja gar nicht SCHREIBEN dürfen!“).
Ein Schulkind sagte einmal kopfschüttelnd: „Das ist doch so was von VERKEHRT!“
Tatsächlich ist es ein sogenanntes Dilemma – und etwas ganz und gar Widersprüchliches.
Diese Gedanken führen zu einem kleinen, sehr speziellen Segment des Buchmarktes, bzw. zum weiten Feld der digitalen Kommunikation via Internet. Zwei Beispiele:
Da fährt ein Salzburger Schauspieler und Schriftsteller (Michael Dangl) nach Grado. Das kleine italienische Städtchen gefällt ihm. Freilich, in den Sommermonaten jede Menge in- und ausländische Badegäste. Diese hohe Dichte an Urlaubern ist aber nur an zwei oder drei räumlich gut begrenzten Bereichen zu orten, abseits dieser Touristen-Zentren findet man zahlreiche idyllische Plätze, stille Gassen, stressresistente Menschen und einfach gute Lokale. (Das kann ich bestätigen.) Weil Grado viel Schönes (GEHEIMTIPP!) zu bieten hat und ein wunderbarer Flecken Urlaubserde ist (Jetzt haben Sie das bereits auch GELESEN und ist Ihnen kein Geheimnis mehr.), besucht der Salzburger Schauspieler und Schriftsteller Michael Dangl diesen Ort an der Adria immer wieder und immer öfter, um dort „abseits der Pfade“ die idyllischen Plätze, die stillen Gassen und die einfachen und guten Lokale zu genießen. Das trägt sicherlich zu seiner eigenen Stressresistenz bei. Schön für ihn. – Nach jahrelangem Urlaubsgenuss in Grado schreibt der Salzburger Schauspieler und Schriftsteller das Buch „GRADO – abseits der Pfade“, und dieser Geheimtipp-Reiseführer wird zum Bestseller. Was hat diese Publikation bewirkt? Deutlich mehr Plätze, Gassen und Lokale haben das Idyllische, Stille und Einfach-Gute eingebüßt. (Auch das kann ich bestätigen.) Die Einheimischen – wohl wissend, dass sie vom Tourismus leben – sind selbstverständlich froh um jeden zusätzlichen Sommergast, sie haben aber einige, für sie selber notwendige Rückzugsgebiete verloren. Ich hoffe, sie bleiben trotzdem stressresistent.
Standortwechsel:
Vor einigen Jahren stand ich noch meist alleine, manchmal gemeinsam mit ein paar naturverliebten Einheimischen auf dem Gipfel des Wasserklotzes. Seit diese 1505m hohe, im Nationalpark Kalkalpen befindliche Erhebung im Fernsehen und in diversen Zeitungen als GEHEIMTIPP („Einsamer Gipfel! Schönster Aussichtsberg“) beworben wurde, braucht man im Sommer, aber auch im Winter schier Platzkarten, um dort oben in aller „Stille“ das Panorama genießen zu können.
Kein großes Problem: Neben dem Wasserklotz gibt es den Schwarzkogel, ruhige Gegend, einfache Steige hinauf, super Aussicht, kann man sogar (aber ACHTUNG: bei Nässe nicht ganz ungefährlich!) eine veritable Überschreitung machen… Gut, Sie wissen, was nun folgt: Die OÖN hat die Schwarzkogel-Überschreitung (auf unmarkierten (!) Wegen) ganzseitig beworben. Somit Schluss mit dem nächsten Rückzugsgebiet – und außerdem bereits zwei Rettungshubschrauber-Einsätze.
Und so wird ein (vom Staat Österreich so verordnet) ausdrücklich zu schützendes und bewusst der Natur zu überlassendes Gebiet im Reichraminger Hintergebirge sukzessive und bedenklich intensiv „veröffentlicht“. Mittlerweile wird jeder halbwegs begehbare Quadratmeter rund um den Hengstpass ins Internet gestellt. „Geheimtipp: Wildromantische, weil menschenleere Schlucht.“ „Märchenhaft ruhiger Platz: Unbedingt hin!“ „Beinahe unbekannter, alter Steig von Alm zu Alm. Lohnenswert auch für ihre wanderlustigen Vierbeiner!“ Die Beweggründe und die Psyche der Leute, die das alles ständig ins Internet stellen, möchte ich hier nicht analysieren. Bestenfalls diagnostiziert man Unverstand. Es ist ja grotesk! Man bewirbt etwas, und bewirkt dadurch das Gegenteil.
Du sollst das nicht lesen!?
Du sollst das nicht schreiben?
Liebe Leser,
im anderen, viel größeren Segment des Buchmarktes ist jeder GEHEIMTIPP abseits der Pfade (also abseits der Bestsellerlisten) höchst willkommen. Hier eine klitzekleine Auswahl an empfehlenswerten „Exoten“ aus dem Bestand des Lesezentrums fechila:
Geheimtipp: „Sturmwarnung“. Die von Stefan Kruecken aufgezeichneten Erinnerungen des Kapitäns Jürgen Schwandt. Unprätentiös, klug, informativ, aufregend wie das Leben auf hoher See. Exotik in OÖ. | Was?? Ein Buch über das Angeln soll interessant geschrieben sein? Max Scharnigg kann das. „Die Stille vor dem Biss“. Geheimtipp – wie auch seine anderen Bücher! |
Tex Rubinowitz hat 2015 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. „Der Bremsenflüsterer“ beinhaltet wahrlich außergewöhniche Reiseerlebnisse. |
Exotik in der Hengstpassgegend, wenn ich dort hin und wieder den Autor Manfred Rebhandl sehe. Sein letzter Krimi „Töpfern auf Kreta“: Auch sehr schräg! |
Ruhige und angenehme Rückzugsorte für das Lesen wünscht
Robert Templ
Irgendwie passend zum Thema dieser Ausgabe der fechila-INFO schreibt Peter Handke in seinem neuen Buch: „Von dem, was die anderen nicht von mir wissen, lebe ich.“