Liebe Leser,

august14_01

„Kannst du nicht schneller arbeiten? Meine Arme sind schon ganz steif.“

wenn ein Maurer einen 60er hat, feiert er keinen runden Geburtstag, sondern er hat in der Regel quasi Karenz. Er kann wetterbedingt überhaupt nicht keine Wände hochziehen, bekommt aber ein sogenanntes Schlechtwettergeld, das 60 % der Nettoentgeltdifferenz beträgt.

„Höhere Gewalt“ lässt den Maurer in der Bauhütte sitzen. Leute, die nicht vom Fach sind und vor Erkenntnisgewinn mauern, nennen das Nichtstun. Menschen, die von der Arbeit etwas verstehen, wissen, dass diese Zeit des Nichtstuns eine produktive sein kann – nicht unbedingt im Sinne einer Umsatzsteigerung der Zipfer Brauerei, vielmehr produktiv durch aktives Aussitzen laufender Problemstellungen, die der Betrieb auf einer Baustelle verursachen kann.

Ein 60er ist eine Auszeit aus dem Getriebe, eine Karenz aus dem Getriebensein in einem Betrieb. Draußen regnet es, und der gute Maurer bespricht mit seinen Kollegen die nächsten Arbeitsschritte. Es geht ums Ausmachen, um Weiterentwicklung, um mögliche Verbesserungen. Schwangergehen mit Gedanken, mit kreativen, vielleicht sogar kostensparenden Ideen: Das ist eine wichtige Form des Fleißigseins (Menschenfleiß), des produktiven Faulseins. So ein 60er ist allemal gewinnbringend.

Diese Zeit des
august14_05

Eine werdende Mutter ist schwanger, weiß jedes Kind. Sie hatte ein Verhältnis, und nun unterbricht sie ihr Arbeitsverhältnis. Karenz, weiß jeder Erwachsene, ist eine erfüllte und auch eine ziemlich aufgefüllte Zeit des „Nichtstuns“.

Ein junger Vater kann genauso schwanger gehen (Ideen denken, wachsen und reifen lassen…).
Geht er in Karenz, muss er sich erziehen, kein Getriebener zu sein, sondern ein zur kreativen Muße Fähiger:

Produktives
august14_06

Alexander Posch: „Sie nennen es Nichtstun“ (2014, S. 192)

august14_02Ein Hausmann am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Draußen vor der Stadt geht das Leben seinen ruhigen Gang – außer man ist „Herr über drei Kinder“, wie Alexander Poschs Alter Ego. Seine Frau verdient das Geld, während er im Hamburger Vorort Kastanientiere bastelt, tote Amseln entsorgt und Fluchtversuche aus einem ausgefransten Dasein startet. Immer begleitet von einer großen Sinnfrage: War es das jetzt? Täglich findet der geforderte Familienvater neue, skurrile Strategien, um dem Inferno die Stirn zu bieten – nicht umsonst steht „WEITERMACHEN!“ auf seinem Schlaf-T-Shirt. Mit Lakonie und Witz beschreibt Alexander Posch das bohrende Gefühl verpasster Chancen und die große Sehnsucht nach einem anderen Leben. Ein literarischer Lesespaß par excellence.

Textauszug aus „Sie nennen es Nichtstun“:

Wieder zu Hause fragt mein Sohn: „Was ist Glück?“
Ich schraube ein Honigglas auf und lege es auf die Seite, sodass der Honig wie ein goldener Vorhang über die Tischkante auf den Boden fließt.
„Ein Honigfall“, sage ich. Ich halte den Finger hinein.
„Wir können vom Glück kosten, aber festhalten können wir es nicht. Das Glück ist in etwa so wie das hier mit dem Honig.“
„Schimpft da Mama nicht?“

Ein Faulsein muss man sich erarbeiten,
e r l e s e n.

Ein Anleitungsbuch schrieb Wolfgang Schneider:
„Die Enzyklopädie der Faulheit“ (2003, S. 192)

august14_03Sie waren große Faulpelze: Charlie Chaplin, Albert Einstein, George Gershwin. In der Schule haben sie versagt, und doch kennt jeder ihre Namen. Vielleicht war ja gerade ihre Faulheit die Basis ihres Weltruhms. Bemerkte doch schon Salomon: „Wer seine Tätigkeit einschränkt, erlangt Weisheit.“ Und Dostojewski ebenso treffend: „Einsamkeit und Faulheit liebkosen die Phantasie.“ Und so ist es nicht verwunderlich, dass Dichter und Denker seit der Antike zu einem Lobgesang auf die Faulheit anhoben. „Die Enzyklopädie der Faulheit“ umfasst jedoch nicht nur die zentralen literarischen und philosophischen Texte zum Thema – Wolfgang Schneider hat zudem eine außergewöhnlich inspirierende Sammlung von Sprichwörtern, Fakten und Kuriositäten rund um die Faulheit zusammengestellt. Aus seiner Enzyklopädie erfährt man z.B., dass Einstein im Schnitt zwölf Stunden schlief, und dass die fleißige Biene gerade mal zwanzig Prozent ihrer Lebenszeit mit Arbeit verbringt: Denn wer zu viel Energie verschwendet, der verkürzt vorzeitig sein Leben.

august14_07

E r l e s e n ist auch Ernst Jandl’s Gedicht vom menschenfleiß – vor 30 Jahren den Professoren und Studierenden im Rahmen seiner „Frankfurter Poetik-Vorlesungen“ vorgetragen:

ich rieche, rieche – menschenfleiß

ein faulsein
ist nicht lesen kein buch
ist nicht lesen keine zeitung
ist überhaupt nicht kein lesen

ein faulsein
ist nicht lernen kein lesen und schreiben
ist nicht lernen kein rechnen
ist überhaupt nicht kein lernen

ein faulsein
ist nicht rühren keinen finger
ist nicht tun keinen handgriff
ist überhaupt nicht kein arbeiten

ein faulsein
solang mund geht auf und zu
solang luft geht aus und ein
ist überhaupt nicht